Wie viele Minderwertigkeitskomplexe sind von Nöten um sich für einen Standard in geschlechtergerechte Sprache einzusetzen

Am 06.06.2019 per E-Mail

 

Sehr geehrte Frau Hannig,

Sie setzen sich ein für eine geschlechtergerechte Sprache?

Nun bin ich 65 Jahre, eine Frau, und es stört mich nicht, dass in meinem Kaufmannsgehilfenbrief „Reisebürokaufmann“ steht. Außerdem werde ich immer, also auch in Zukunft, Negerkuss zu einem Negerkuss sagen.

Wie viele Minderwertigkeitskomplexe sind von Nöten um sich für einen Standard in geschlechtergerechte Sprache einzusetzen statt sich um richtige Probleme zu kümmern.

Sicher haben Sie Armut nie kennen gelernt. Es gibt aber in unserem ach so reichen Deutschland auch heute noch Kinder, die nicht einmal ein Frühstück haben, bevor sie in die Schule gehen. Die kein anständiges Mittagessen bekommen und um die man sich nicht kümmert. Hier, oder bei vielen anderen Problemen wäre Hilfe wichtig.

Überlegen Sie mal ob Sie ihre kreative Ader nicht für etwas wirklich sinnvolles einsetzen wollen.

Ich wünsche Ihnen alles Gute

M. G

 

 

Meine Antwort

 

Sehr geehrte Frau G.,

offenbar fanden Sie das Thema Geschlechtergerechtigkeit wichtig genug, um mir deshalb eine E-Mail zu schreiben. Leider fanden Sie das Thema nicht wichtig genug, um auch nur ein einziges sachliches Argument vorzubringen. Das ist schade, denn es hätte mich schon interessiert, was Sie eigentlich gegen geschlechtergerechte Sprache haben, zumal ich diese ja niemandem aufzwinge, sondern nur dazu ermutige, sie innerhalb der Wikipedia benutzen zu dürfen.

Wenn es Sie selbst nicht stört, „Reisebürokaufmann“ zu sein, ist das doch wunderbar. Sie stehen offenbar mitten im Leben und sind zufrieden mit ihrer Lebenssituation. Dazu kann ich Sie herzlich beglückwünschen. Gleichzeitig wundere ich mich aber, dass Sie diese offenbar sorgenfreie Situation nicht zum Anlass nehmen, weniger privilegierte Menschen zu unterstützen. Sie scheinen ja Kapazitäten frei zu haben. und wie Sie selbst sagen gibt es Menschen, denen es in diesem reichen Land (aus unterschiedlichen Gründen) nicht so gut geht. Und wenn es andere Menschen gibt, die im Gegensatz zu Ihnen benachteiligt werden und die durch sprachliche Traditionen unsichtbar werden – warum sollte es Sie stören, wenn ich versuche, diese Menschen sichtbar zu machen?

Da Sie es selber ansprechen möchte ich auch noch auf den Begriff „Negerkuss“ eingehen. Dieser ist zwar eigentlich eine ganz andere Baustelle, die Problematik ist aber doch eine ganz ähnliche.

Mit 65 Jahren sind Sie aller Voraussicht nach in einer Gesellschaft groß geworden, in der das Wort Negerkuss ein ganz „normales“ Wort war und von Ihnen ohne böse Hintergedanken übernommen wurde. Der Begriff „Negerkuss“ existiert seit 1950 bzw. 1934 (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Schokokuss). In dieser Zeit war die Deutsche Mehrheitsgesellschaft viel homogener als heute – nicht zuletzt weil der Zweite Weltkrieg dafür gesorgt hatte, dass Menschen anderer „Rassen“ ermordet wurden. Es wurde also vielleicht über „Neger“ gesprochen, aber rein statisch gesehen selten mit ihnen. Deshalb war und ist vielen Menschen gar nicht bewusst, wie rassistisch und verletzend der Begriff „Negerkuss“ ist. Mich würde interessieren, haben Sie je einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe gefragt, wie er das Wort findet, oder haben Sie ihm je einen „Negerkuss“ angeboten?

Worte ändern sich. Bedeutungen wandeln sich. Manche Änderungen rufen große Empörung hervor, bei anderen geschieht die Wandlung ohne gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Dass man heute nicht mehr Fernsprechapparat sondern Telefon sagt, bringt niemandes Blut in Wallung. Dass man heute zu einem Kind, das aus einer unehelichen Beziehung stammt nicht mehr „Bastard“ sagt, weil es ehrverletzend ist, scheint hingegen den meisten Menschen einzuleuchten. So ist es auch beim „Negerkuss“. Wenn Sie zusammenzählen, wie oft Sie in Ihrem Leben schon dieses Wort verwendet haben, so vermute ich, dass es kaum 100 Mal gewesen sein werden. Das Wort wäre somit für Ihr gesamtes Leben nicht von herausragender Bedeutung. Wieso empfinden Sie es dann als ein Problem, dieses Wort aus Höflichkeit, Respekt und menschlicher Empathie gegen ein ebenso gebräuchliches, tatsächlich auch noch zutreffenderes Wort wie z.B. Schaumkuss oder Schokokuss auszutauschen? Es ist ja nicht so, dass Ihnen jemand verbieten will, das Wort „ich“ oder das Wort „Freiheit“ aus Ihrem Wortschatz zu streichen.

Und dann zum letzten Punkt. Ja, Sie haben Recht. Es gibt in der Tat VIEL WICHTIGERE Themen auf der Welt, als geschlechtergerechte Sprache. Und ich hätte gerne mehr Zeit und Energie, um mich all diesen Themen in adäquater Form zu widmen. Das heißt aber nicht, dass man die kleinen Themen deshalb ignorieren sollte. Jeder der schon mal einen winzigen Kiesel im Schuh hatte, weiß, was ich meine.

Ich hoffe, dass Sie meine E-Mail in dem freundlichen und hoffnungsvollen Ton lesen, in dem ich Sie geschrieben haben, denn es wäre schade, wenn wir beide so viel Zeit und Energie in eine Diskussion investieren, die am Ende nur Frust hervorruft. Auch wenn wir nicht einer Meinung sind, sollten wir uns doch bemühen, respektvoll miteinander umzugehen und die Argumente des anderen wahrzunehmen.

In diesem Sinne möchte ich Sie auch daran erinnern, dass es sinnvoll und fair ist, bei einer Diskussion zwischen Inhalt und Person zu unterscheiden. Denn selbst wenn ich die größten Minderwertigkeitskomplexe haben sollte, könnte ich trotzdem in der Sache Recht haben.

Mit freundlichen Grüßen

Theresa Hannig

06.06.2019

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