Die Leipziger Buchmesse ist vorbei – zumindest für mich. Eigentlich ist Sonntag ja noch ein Messetag aber ich habe es vorgezogen, bei -7 Grad auf Gleis 11 des Leipziger Hauptbahnhofs meine Zeit zu verbringen. Mein Zug fährt pünktlich, das sagt zumindest die App auf meinem Handy.
Schließlich kommt eine Durchsage: Der vordere Zugteil sei verschlossen, alle Passagiere mögen aus der Halle hinaus, bis zum hinteren Teil des Bahnsteigs gehen und dort in den Zug einnsteigen, der auch noch in geänderter Wagenreihung einzufahren gedenkt. Eine Menschenkolonne setzt sich in Bewegung. Alles strebt der Hallenöffnung zu und die Kälte kriecht mir in die Knochen. Ich wage es nicht, ganz raus zu gehen, bleibe lieber noch unter dem Dach stehen und siehe da: der Zug verspätet sich um 5 Minuten, 10 Minuten, 15 Minuten.
Leute kommen und gehen, obwohl kein Zug ein- oder ausfährt. Auch mein Zug lässt weiter auf sich warten. Hinter mir wird es laut. Eine Gruppe junger Männer, von denen alle Bier und einer eine kurze Hose trägt, grölt herum. Ich frage mich, warum dem Mann mit der Hosenunterversorgung nicht augenblicklich die Fortpflanzungsorgane einfrieren, die ja durch zwei fluffige Kältetunnnel mit der Außenwelt versorgt werden.
Statt meines Zugs nach München fährt ein Zug nach Hamburg ein. Alle Menschen suchen Zuflucht in den warmen Abteilen. Tatsächlich werden es so viele, dass eine Durchsage kommt, dass der Zug so nicht mehr abfahren könne und alle, die nicht wirklich ganz, ganz dringend hier weg wollen, doch bitte aussteigen mögen. Mag aber keiner. Irgendwie haben die Leute am Sonntag Vormittag tatsächlich das Bedürfnis, die Stadt zu verlassen.
Bahnmitarbeiter versuchen es mit gutem Zureden. Schließlich kommen zwei Poliztisten. Aber die Menschen im Zug bleiben störrisch und sind dramatisch in der Überzahl, was auch den Polizisten aufzufallen scheint. Den beiden etwas korpulenten Beamten spannt die schusssicher Weste über dem Torso, der nur mit einem Pullover, nicht aber mit einer dringend notwendigen Winderjacke gewärmt wird. Und so sind die beiden nach ein paar Minuten auch wieder verschwunden.
Die Leute im Zug kümmern sich weiterhin nicht darum. Lieber im behaglich warmen Zug stehen und vom Zugpersonal zurechtgewiesen werden, als auf dem Bahnsteig frieren. Irgendwie kann ich das nachvollziehen. Leider bedeutet das für mich, dass der Verspätungsticker für meinen Zug immer weiter nach oben geht. 25 Minuten, 30, 40, 50, 80. Oh Mann, ist das kalt. Der Zug nach Hamburg blockiert das Gleis für meinen Zug. Wie soll das weiter gehen?
Plötzlich verschwindet mein Zug von der Infotafel. Die Bahn hat sich offenbar entschlossen, die Blockierer zu bestrafen und schreibt nun “Zug fällt aus” auf die Anzeige. Ob die Leute drin das wissen? Die sitzen ganz ruhig und essen und lesen und unterhalten sich.
Schließlich suche ich Asyl in einem Buchladen. Der bietet zwar keine Ausgabe von “Die Optimierer” an, dafür aber eine Heizung. Ich drücke mich in der Nähe des Eingangs rum, von wo ich den Blockadezug und die Anzeige im Blick behalten kann, die sich mittlerweile auf “Bitte nicht einsteigen” geändert hat. Ich frage mich, ob das generell ein guter neuer Slogan für die Bahn im Winter wäre: Deutsche Bahn – bitte nicht einsteigen.
Wir sollten wirklich keinen Krieg mehr führen. Wir können nix. Kaum fällt eine Flocke vom Himmel erstarrt die deutsche Infrastuktur vor Ehrfurcht und wartet auf den Sommer.
Eine aufgeregte Frauenstimme unterbricht meine Gedanken: “Dominik, der Zug kommt!” Ein Raunen geht durch die Menge, spontan wird applaudiert. Dann die berechtigte Frage: “Welcher Zug denn?”
“Der nach München, auf Gleis 13!”
Jetzt hält mich nichts mehr. Zusammen mit zahllosen anderen Wartenden stürmen wir aus dem Laden, zerbrechen die festgefrorenen Warteschlangen an den Bahnschaltern und da kommt sie wirklich, die Erlösung in Form eines weißen ICEs. Und siehe da: Der erste Zugteil ist offen und komplett leer. Ein Zugmitarbeiter hat Mitleid mit uns gehabt und die Türen geöffnet, obwohl er eigentlich schon Feierabend gehabt hätte. Außerdem informiert er uns, dass wir uns gerne an ihn wenden könnten, sofern wir Fragen hätten – kontrollieren würde er uns aber nicht. Das können die meisten verkraften.
Als sich der Zug zehn Minuten später Endlich zaghaft aber unaufhaltsam in Bewegung setzt, brandet Jubel durch mein Abteil. Es ist geschafft. Ich kehre sibirisch-Leipzig den Rücken und freue mich auf die Fahrt nach München.
Ob es Dominik und die Blockierer im Zug nach Hamburg jedoch rechtzeitig nach Hause schaffen werden, kann ich nicht sagen.