Mein Großvater war vielleicht ein Nazi. Er ist rechtzeitig aus dem Vorstand der IG Farben ausgestiegen – Genaues weiß man nicht. Im Nachlass meines Vaters fand ich nur ein einziges Dokument mit Hakenkreuz: Die Heiratsurkunde meiner Großeltern, die mit einem offiziellen Stempel bestätigt worden war.
Über die Geburt meines Vaters schreibt mein Großvater in sein Tagebuch: Man habe sich vor der Geburt keine Gedanken über den Namen gemacht und sich dann ganz spontan für Michael entschieden. Als sich dann herausstellte, dass Michael der Schutzengel Israels sei, habe das zunächst zwar die Stimmung getrübt, aber dann habe man sich damit abfinden müssen.
Mein Vater war wahrscheinlich kein Nazi. Er sagte selbstverständlich N**** zu Schwarzen Menschen. Er fand Homosexuelle nur dann akzeptabel, wenn sie sich nicht „tuntig“ aufführten und fand, dass er es als alleinstehender Mann besonders schwer im Leben habe, da es eine große Herausforderung sei, für sich selbst zu kochen – Frauen könnten das ja von Natur aus besser. Wenn mein Vater über Juden sprach, sagte er niemals „Jude“, sondern immer „Beutel“. Es war für mich schon so selbstverständlich, dass er diese Terminologie benutzte, dass mir lange nicht auffiel, wie eigenartig es war. Als ich ihn eines Tages nach dem Grund dafür fragte, antwortete er: „Man darf ja heute nichts schlechtes mehr über die Juden sagen, also sage ich Beutel, dann ist das unverfänglich.“
Ich wusste, dass es falsch war, was er tat, aber ich wusste nicht genau warum. Ich stritt mit ihm, aber ich konnte ihn nie überzeugen, seine Redeweise zu ändern. Er mochte es, provokant zu sein, er wollte den Konflikt. Irgendwann habe ich über bestimmte Themen einfach nicht mehr mit ihm gesprochen.
Ich war natürlich kein Nazi. In der Schule haben wir im Geschichtsunterricht das 3. Reich durchgenommen. Immer und immer wieder. Es schien, als gäbe es im gesamten Gymnasiallehrplan nur eine feste Konstante: In Geschichte geht es um Nazis und den 2. Weltkrieg. Wir waren übersättigt mit Krieg, Leid, Judenverfolgung und Tod. Wir besuchten das KZ in Dachau, waren immer wieder aufs Neue bestürzt und… irgendwie gelangweilt.
Als das Abitur vor der Tür stand und es darum ging, einen lustigen, flotten Spruch zu erfinden, war ein Favorit „Abi macht frei“. Ich weiß nicht mehr, ob ich den Spruch erfunden oder nur gut gefunden habe. Jedenfalls habe ich dafür gestimmt. Ich dachte: Na jetzt ist aber echt mal gut mit dem ganzen 3. Reich Gedöns. Das ist doch so lange her, da lebt doch eh fast keiner mehr, der das erlebt hat. Ist doch wurscht und ein bisschen provokant soll es doch sein.
Am Ende entschieden wir uns für einen anderen Spruch.
Im Studium verbrachte ich ein Auslandssemester an der Venice International University wo Studierende aus verschiedenen Teilen der Welt zusammen kamen: Aus Deutschland, Italien, Spanien, den Niederlanden, USA, Japan und Israel. Am besten verstanden sich meist die Deutschen mit den Israelis. Auch ich teilte mein kleines Zimmer mit einer Studentin aus Israel und schon bald waren wir beste Freundinnen. Einmal begleitete sie mich auf einen Kurztrip nach Deutschland. Es sollte ein großartiges Wochenende werden.
Es gibt diese braunen Schilder am Rand deutscher Autobahnen. Sie weisen auf Sehenswürdigkeiten hin und wenn man vom Flughafen Franz Joseph Strauß kommt, fährt man unweigerlich an einem Schild vorbei, das auf das KZ Dachau hinweist. Die Augen meiner Freundin wurden von diesem Schild magnetisch angezogen. Sofort war klar, dass sie dorthin wollte. Ich ahnte Schlimmes, hatte keine Lust auf einen deprimierenden Nachmittag und versuchte, ihr das Vorhaben auszureden, doch da war nichts zu machen. Gleich am nächsten Tag fuhren wird nach Dachau. Es war ein Desaster. Es war schrecklich. Wir haben geweint und dann geschwiegen. Das Schweigen hielt an. Nicht nur in Deutschland. Auch als wir wieder an der Uni waren, in unserem neutralen Venedig, an dem Ort, den wir beide als Fremde besucht und uns zu eigen gemacht hatten, trat das Schweigen wie ein unüberwindliche Mauer zwischen uns.
Ich war wütend auf sie. Ich hatte gewusst, dass sie den Besuch schlecht verkraften würde und sie hatte es auch gewusst und trotzdem hatte sie darauf bestanden und so unsere gute Beziehung kaputt gemacht!
Unser Abschied am Ende des Semesters war eigenartig. Sie entschuldigte sich für ihr Schweigen und ich wusste nicht recht damit umzugehen. Wir versprachen, uns zu schreiben. Dann schwiegen wir.
Ein Jahr später besuchte ich sie in Israel. Es war seltsam, denn diese unsichtbare unausgesprochene Sache stand immer noch zwischen uns. Ich fühlte mich fremd in ihrer Gegenwart und beobachtet. Wir konnten nicht richtig miteinander sprechen und zerstritten uns aus den nichtigsten Gründen.
Es dauerte zehn Jahre, bis wir uns wieder annäherten.
Heute, am 09.11.2020 stehe ich auf, mache Frühstück, bringe meine Kinder in die Schule und setze mich zum Arbeiten an den Computer. Da werde ich im Internet von der Reichspogromnacht „überrascht“. Ich denke mir: „Ach stimmt, das war ja heute, hätte ich gar nicht dran gedacht.“
Und in diesem Moment wird mir klar, was für ein ungeheuerliches Privileg es ist, das denken zu können. Ich kann selber darüber entscheiden, ob und wie ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen will. Niemand beschimpft mich auf der Straße weil ich so bin, wie ich bin; niemand bedroht mich oder tötet meine Familie.
Das schlimmste, was mir die Judenverfolgung bisher eingebrockt hat, war ein langweiliger Geschichtsunterricht, eine etwas verschrobene Familie und eine verdorbene internationale Freundschaft. Hier sitze ich und schäme mich!
Nicht für die Taten meiner Vorfahren oder die Schuld, die Deutschland auf sich geladen hat. Nein, ich schäme mich für meine eigene Leichtigkeit, meine eigene Unbedarftheit. Ich schäme mich, weil ich in einem Wohlfühlmantel des Nichtschuldsein aufgewachsen bin und gelebt habe und dabei die Gefühle der betroffenen Menschen, ihre Geschichten, ihre Lebenswelt und die immer noch stattfindenden antisemitischen Anfeindungen, Gewalttaten und deren Verharmlosung gar nicht wirklich wahrgenommen habe. Ich schäme mich!
Ich kann die Vergangenheit nicht rückgängig machen. Was gedacht, gesagt und getan wurde, ist geschehen. Aber ich kann versuchen, ab dem heutigen Tage wachsamer, mitfühlender und bescheidener zu sein. Und ich werde meiner Freundin einen Brief schreiben.
Auch für mich war das Dritte Reich während der Schulzeit in den 1970er/80er Jahre allgegenwärtig und die Übersättigung mit Kriegsfakten, Zahlen getöteter Menschen und die quasi verpflichtende Scham führten nicht selten dazu, dass man der NS-Vergangenheit überdrüssig wurde. Die Aufarbeitung etwaiger Verbindungen zur NSDAP im Familien- und Bekanntenkreis war nie Thema. Bis heute klafft hier eine Lücke in der Familiengeschichte, was an sich schon verdächtig anmutet.
Auch ich schäme mich. Für die Momente, in denen ich der Verfolgung und systematischen Ermordung von Juden und auch anderer von Nationalsozialisten ausgewählter Menschengruppen überdrüssig war und die Schuld einer ganzen Generation am liebsten hätte vergessen wollen.
Jedesmal aber, wenn ich heute einen Stolperstein sehe, lese ich dort die Namen und stelle mir den Moment vor, in dem diese Menschen von Männern in braunen Uniformen oder schwarzen Mänteln aus ihren Wohnungen verschleppt und in Eisenbahnwaggons gepfercht wurden, nur aufgrund ihrer Religion, Herkunft oder Andersartigkeit. Dann weicht die Scham schnell anderen Gefühlen: Trauer und Wut.
Auch wenn es bereits 80 Jahre her ist, ist es bedeutsam an die Opfer von einst zu denken. Und sei es mit Scham, Trauer oder Wut. Alles ist besser als zu vergessen. Denn wir alle wissen: Das menschenverachtende Gedankengut ist ebenfalls noch nicht vergessen. Die Aufgabe der Enkelgeneration ist es, dafür zu sorgen, daran zu erinnern, wie Gedanken zu Worten, wie Worte zu Taten und wie Taten zum Töten werden kann … und es zu verhindern. Sich zu schämen, ist wichtig. Danke, Theresa.