Was Corona und die Finanzkrise nicht geschafft haben, das wird Anfang 2024 von unerwarteter Seite Wirklichkeit: Endlich Ruhe im Karton!
Es beginnt mit dem Bauernaufstand. Diesmal nicht mit Mistgabeln und brennenden Fackeln, sondern als Karawane mit tonnenschwerer Hightech-Traktoren, die Straßen und Städte blockieren, was ganz offensichtlich mehr Eindruck macht, als sich an der Fahrbahn festzukleben. Als Unterstützung kommen die LKW-Fahrer und als Sahnehäubchen verkündet Bahn-Nemesis und Ober Lokführer Weselsky einen unbefristeten Streik der Lokführer.
Die ersten Tage verharren wir in einer nervösen Erwartungshaltung, checken täglich die Bahn Webseite und hoffen, unsere Tickets noch irgendwie auf FlixBus umbuchen zu können, oder vielleicht doch einen Inlandsflug zu bekommen. Aber nein, da folgt der nächste Streich: Die Vereinigung Cockpit kündigt Streiks für die nächsten Tage an. Und während ich eine Lesung nach der anderen aus meinem Kalender streiche, eine Konferenz absage und meine Verwandten auf irgendwann vertröste, kehrt im Land langsam Ruhe ein. Wie zuletzt vor vier Jahren werden die Jogginghosen wieder rausgeholt und passend zu Hemd und Jackett im Home-Office bei der Videokonferenz getragen. Aber nicht lange, denn da streikt auch schon die Kita und weil auch die Busse nicht mehr fahren wird aus Schulunterricht das gute alte Home-Schooling. Aber machen wir uns nichts vor: eigentlich passiert einfach gar nichts und wer zu Hause keinen Drucker hat, kann seinen Schulabschluss gleich vergessen. Macht aber nichts, denn gearbeitet wird ja sowieso nicht mehr. Ein Glück, dass wir aus Corona Zeiten noch Unmengen an Vorräten gehortet haben. Nudeln mit Tomatensauce, Thunfisch mit Bohnen oder Erbseneintopf geht immer! Ich habe noch 32 kg Mehl im Keller und fange an, mein eigenes Brot zu backen – beim Bäcker gibt es ja nichts mehr, weil die Lieferungen aus der Großbäckerei nicht ankommen – und tausche es bei den Nachbarn gegen Neuigkeiten, Bier und Zigaretten. Wir freuen uns, dass der Klimawandel schon so weit fortgeschritten ist, denn sonst hätten wir den Blackout ab Ende Februar nicht so gut weggesteckt. Aber bei 25 Grad lässt es sich gut draußen sitzen und am Lagerfeuer schmeckt die Kartoffelsuppe gleich doppelt so gut. Mit dem Strom verschwindet natürlich auch das Internet, was vor allem die Rentner hart trifft. Jetzt müssen die Trolle unter ihnen den ganzen Frust wieder an echten Menschen auslassen, was wesentlich handfestere Konsequenzen mit sich bringt, als Hasskommentare auf Facebook zu verbreiten. Das heimische Lagerfeuer spendet nicht nur Licht und Wärme, sondern auch Frieden, denn in kalten Nächten will keiner aus der nachbarschaftlichen Survival-Gruppe ausgestoßen werden. Die Jugendlichen hadern mit der Existenz als Offliner. Sie haben sich gegen die Erwachsenen, die alles kaputt gemacht haben, verbündet und schmieden Umsturzpläne. Aber sie wissen nicht, wie man sich ohne Internet neues Wissen aneignet, also Punkt für uns Bibliotheksausweisbesitzer!
Glücklicherweise fließt ein Fluss durch unsere Stadt, sodass wir täglich nur 2 km hin und zurück laufen müssen, um unser Frischwasser abzuholen. Macht nichts, wir haben ja sonst nichts zu tun. Und Stress haben wir auch keinen mehr. Denn seit die Post keine Briefe mehr zustellt, gibt es auch keine Rechnungen und Mahnungen mehr, über die man sich Sorgen machen könnte. Die Kinder spielen draußen im Wald und auf den Feldern, die jetzt – da sie keiner mehr bearbeitet – wieder ein Teil der Natur und nicht mehr nur Produktionsmittel sind. Sonntags geht das Viertel gemeinsam auf die Jagd – an Waffen herrscht mittlerweile kein Mangel mehr.
Ich öffne gerade die letzte Flasche Wein und rauche die letzte Zigarette, als das alte Bundeswehr-Funkgerät verkündet, dass sich der Bauernverband und die Bundesregierung endlich auf einen Kompromiss geeinigt haben. Ab morgen kehrt alles wieder zur gewohnten Ordnung zurück. Da flackert auch schon das Licht. Alle hasten in ihre Wohnungen um Fernseher einzuschalten und Handys aufzuladen. Ich bleibe noch sitzen bis die Glut erlischt und frage mich, ob wir nächstes Mal wieder so viel Glück haben werden.
Das Bild wurde mit DALL-E generiert. Der Prompt lautete: In 2024 men, women, and children from the German middle class are gathered around a campfire in their residential complex’s garden on a sunny March day, eating canned soup. The environment reflects the early days of the post-apocalypse, marked by a mix of disarray and optimism.